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It´s a kind of magic/Lockdown-Zauber

It´s a kind of magic/Lockdown-Zauber

 

Ich bin ja mittlerweile der festen Überzeugung, dass der impotente Mann, der fürs Leben gesucht wird, der Medicus ist. Ja, ganz im Ernst: Schließlich ist er immer genau auch dann im öffentlichen Bücherschrank zu finden, wenn das genannte Buch über nicht mehr erektionsfähige Typen sich ebenfalls dort herumdrückt. Wenn ich diese beiden Werke spotte, sehe ich immer auch ein wenig mein Leben an mir vorüberziehen. Der Medicus war mal DER Bestseller, als ich noch ziemlich ziemlich jung an Jahren war und das mit dem impotenten Mann muss noch irgendwann vor Viagra gewesen sein.

Die öffentlichen Bücherschränke sind aber nicht nur ein Fingerzeig auf mein fortgeschrittenes Alter, sondern ein stummer Rückblick auf die Literatur, oder besser: Belletristik der vergangenen Jahrzehnte – wie es war und was die Unterschiede zu heutigem Lesestoff sind. Die Welt hat sich gefühlt rasend schnell gewandelt und so stehen solche Bücher für mich noch für Gemütlichkeit, mehr Unbekümmertheit und dem Ausgeben von Geld für viel zu viele schriftstellerische Produkte. Ich habe damals kiloweise Bücher gekauft, vor allem, wenn Reisen anstanden. Ein Strandtag ohne Buch hätte mich damals in Panik versetzt, dem musste ich vorbeugen.

Nach einer gewissen Flaute ist mein Lesehunger wieder erwacht, bloß gebe ich nicht mehr so viel Geld für Bücher aus wie damals, oder, okay, seltener. Nicht nur dank medimops, denn noch günstiger bekomme ich meine Freunde für gewisse Stunden aus dem rechteckigen Kasten aus Glas und Stahl, der  mich magisch anzieht. Manchmal beherbergen auch alte Telefonzellen das kostenlose Vergnügen, was das Gefühl der golden memories noch verstärkt, schon fast auf die Spitze treibt.

Am Inhalt der Buchcontainer lassen sich Trends bei Themen und der Gestaltung über die Zeitläufte im Verlagsgeschäft ablesen (im wahrsten Sinne des Wortes). Jeder und jede erkennt sofort die Siebzigerjahre-Aufmachung des dtv oder Fischerverlages, bei vielen klingelt es im Köpfchen, wenn gelbe Reclams aus den großen und teilweise abgegriffenen Buchrücken hervorstechen und längst vergangene Schultage werden wieder präsent. Überhaupt Schul- und Studiumlektüre: Schlägt man die Bücher auf, wimmelt es teilweise von Anmerkungen und Textmarkerunterstreichungen.

Es schenkt mir ein leicht prickelndes Gefühl, wenn sich in anderen Büchern Fahrscheine, Postkarten, und einmal auch der Flyer für ein längst vergangenes Weihnachtskonzert in London finden sowie häufig auch der Name des Besitzers oder der Besitzerin. Oder handgeschriebene D-Mark-Preise. Kult! Was mag aus Inge geworden sein, die das Buch „Tante Inge haut ab“ mit einer liebevollen Widmung der Schenkenden irgendwann hier ablud? Oder waren es deren Angehörige? Oft finden sich Bücher, in denen eine altertümliche Schrift den Namen der Leserin oder des Lesers anzeigt. Manchmal sogar mit Jahreszahl. Häufig entströmt dem alten Papier der Geruch nach Keller, nach mürbem, bräunlich verfärbtem, rauem Papier und ich habe mir oft vorgestellt, wie diese Bücher bei der Entrümpelung von Omas und Opas Haus in einen Karton und dann in einen der Bücherschränke gewandert sind. Viele Menschen haben Skrupel, Bücher wegzuwerfen und ich finde, das ist gut so! Trotzdem habe ich mich schon auf diese Weise der eckigen Kameraden entledigt. Andere würde ich niemals nie fortgeben. Wer sonst bricht in Freudentränen aus, wenn das Original von Pünktchen und Anton, das einst der Mutter gehörte, endlich wieder auftaucht? Oder andere Schätzchen, die ich mir in den 1990er Jahren kaufte und zu meinen Lieblingsbüchern erklärte?

Ohne Bücher ist ein Leben vielleicht möglich, aber absolut sinnlos und entzaubert.

Insofern war während des Lockdowns – neben den obligatorischen Spaziergängen, dem Netflixen und Mediatheken-Leerkucken- der Gang zum Bücherschrank ein kleines Highlight. Würden neue Lieblingsbücher auf mich warten? Bekäme ich endlich ein paar Bestseller aus den letzten zehn Jahren in die Hände? Es gibt einen bestimmten Schrank, der besondere Magie ausströmt. Zusammen mit dem ebenfalls der Sprache und der Literatur verfallenen Begleiter fühlte ich die leichte Spannung, wenn wir uns dem Outdoormöbel näherten. Wer, wenn nicht wir, würde sich fast um ein Fachbuch klöppen?

„Oh, Thematischer Wortschatz Englisch!“

„Das wäre genau das Richtige..."

„… für meine…“

„… Schüler!“

„Nee, für meine!“

„Moooment!“

An manchen Tagen fanden wir so vieles, was uns lesenswert erschien, dass wir ganze Packen unter dem Arm nach Hause trugen. Als ob sich da nicht schon x andere ungelesene Schmöker gestapelt hätten!

Einmal amüsierte sich eine Frau ganz köstlich über uns, die wir uns gegenseitig die Bücher in die Kapuzen steckten. „Wie süß!“, lachte sie.  Sie lachte noch, als wir ihr später beim Spaziergang (!) wiederbegegneten. Wir trugen es mit Fassung.

Ein öffentlicher Bücherschrank ist wie das Lied Always look on the brigt side of life aus dem Film Das Leben des Brian. Da heißt es auch: I mean, what have you got to lose? You know, you come from nothing, you`re going back to nothing. What have you lost? Nothing!“

Ich gehe dorthin, und wenn ich etwas Schönes finde, ist es für umme und wenn sich dann herausstellt, dass es doch eher semi-geil ist, habe ich nix investiert und somit auch nichts verloren. Ich stelle das Buch einfach wieder zurück und finde vielleicht ein anderes, das dann wirklich ein Pageturner oder ein Keeper ist. Und wenn ich den Schrank mit Büchern füttere, gewinne ich auch, nämlich Platz für neue Bücher oder neue alte Bücher. Ich finde das großartig!

Manchmal trifft man auch nette Leute am Frischluft-Literaturspot und kann ein kurzes Schwätzchen halten; eine ältere Dame sagte fröhlich, sie komme fast täglich zum Schnöfen vorbei. Ich konnte sie so gut verstehen! Stand doch auch ich schon einmal in der Dunkelheit und bei Regen dort, die Bücher mit der Taschenlampe des Mobiltelefons beleuchtend, um mir noch eine Gute-Nacht-Geschichte zu fischen.  Man bekommt so einen gewissen Jagdtrieb und feiert es richtig, wenn man Beute mit in seine Höhle schleppen kann.

Einige der big book spenders verfügen auch über ein `Kinderfach`. Das finde ich rührend, vor allem, wenn ich da den schwarzen Hengst `Blitz` wieder wiehern höre oder ein `Was ist was`-Buch finde. War euer Liebling davon auch das über die Dinosaurier? Heute haben die wahrscheinlich ganz andere Themen wie `Mein erstes Handy`, `Cybersex für Anfänger`, `Laktosefreie Milchschnitten ohne Industriezucker selbermachen` oder  `Wie komme ich ins Darknet?`. Rührend finde ich die Fächer aber auch, weil so nicht nur eine Sortierung vorgenommen wird, sondern vielleicht auch vermieden werden soll, dass die Kiddies zu früh mit schweinischer Literatur in Berührung kommen. `Der Wendekreis des Krebses` weckt vielleicht nur insofern ihr Interesse, als dass sie ihren letzten Ostseeurlaub damit assoziieren. Nur, so ganz sicher kann man sich da auch nicht sein. Was soll´s, als ich elf war und bereits eine Leseratte vor dem Herrn, die nie ganz satt wurde, las ich auch `Ehebruch` von Marie Louise Fischer. Auch eine der Granden der Bertelsmann-Bestseller-Schmöker. Überhaupt: Der Bertelsmann Club! Kennste? Kennste? Güldene Zeiten, um das Volk in der Sicherheit zu wiegen, dass alle irgendwie ein bisschen intellektuell waren, denn: sie hatten ja Bücher im Regal! Was war das damals für eine geniale Idee! Neben den Konsaliks und Simmels gibt es noch andere Signale für Literatur von vor fünfzig Jahren oder so: Die Kochbücher! Diese Schriften! Und erst die Fotos! Überbelichtete Köstlichkeiten mit viel Alkohol, Farbstoff und vor allem Mayonnaise, außerdem Bouefs à la… Chat o´Brians mit Whiskey, Tomatensuppen mit Gin etc. Guten Appetit!

Manch eine/r missbraucht aber die magischen Kostenlos-Buchlädchen als Papiercontainer und lädt ganze Enzyklopädie- und Lexika-Reihen dort ab, oder stapelt sie daneben. Das geht natürlich gar nicht! Trotzdem schaut man auch mit ein wenig Wehmut auf das analoge Google und Wikipedia.

Hat das Internet doch dafür gesorgt, dass wir ein bisschen von unserem eigenen Schatten überholt wurden. Apropos schneller als der eigene Schatten (okay, das war jetzt umgekehrt): Comics finden sich eher selten auf den Glasböden! Die richtig koolen Sachen behält man dann wohl doch lieber selbst, oder verhökert sie bei ebay oder auf dem Trödelmarkt.

Der Inhalt der Schränke lässt auch häufig Rückschlüsse auf die Anwohner zu und so kann man nebenher noch lustige Sozialstudien betreiben. Das alles dank eines Bücherschranks! Na, ist das nichts? Ja, ich weiß, man muss es auch vor dem Hintergrund der an Abwechslung krankenden Zeit betrachten, deren Höhepunkte die neuesten Infektionszahlen waren. Trotzdem…

Mein magischer Lieblingsbücherschrank ist jedenfalls bisher beste in EU-West! Trotzdem stecke ich meine Nase auch in `fremde` Schränke; so fand ich Starnberg passend zu meiner Reha das Büchlein: Ich brauche eine Kurschattenversicherung. Das MUSSTE ich einfach mitnehmen. Hab es dann aber in der Klinik gelassen, denn: “Was in der Reha passiert, bleibt in der Reha!“ Vielleicht hatte ich aber auch einfach keinen Platz mehr in meinem Gepäck…

 

© Sandra Windges

 

 

Photo by Tom Hermans on Unsplash

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Kommentare: 1
  • #1

    Genial (Mittwoch, 01 Dezember 2021 14:07)

    Was der Bertelsmann Buchclub für viele war, war der Lingen Verlag für die WZ Tageszeitung, wo meine Mutter arbeitete.
    Dort wurden dieselben Pearl S Buck und Konsalik Schinken zum freundlichen Preis verhökert.
    Lesen und Bücher zu besitzen war tatsächlich ein Statussymbol. Inkl der Büchereikarte. Ich habe mir immer einen 4 Wochenvorrat nachhause geschleppt.
    ...ach ja, heute kaufe ich viele Bücher gebraucht und lese ca nur 2/3 davon.... bin oft zu müde vom vielen Desktoplesen.

    Danke für die schönen Zeilen.