Mir fehlt ein Stück vom Sommer …
… und nicht nur das. Ich weiß auch nicht, wo die vergangenen zehn Jahre geblieben sind.
Schwimmbadpommes
immerhin gab es dieses Jahr und sie waren, ganz klischeehaft, ultralecker. Überhaupt war die ganze Freibadatmosphäre so deep gechillt, dass ich mich in einer rosa Blase des Gutdraufseins wähnte. An der Verkaufsbude lief groovige Musik und die Bedienung im “Böhse Onkelz“-Tour-Shirt war trotzdem freundlich, der Boden mit weichem, weißen Vogelsand betreut und die Sonne schien auf alle: Auf die drei Männer, die – ihre Unterarme auf einer Luma abgelegt habend – von dichten Rauchschwaden umgeben wohlgelaunt ihren beeindruckend großen Joint rauchten. Auf die Gen Z, die sich auf den Plastik-Poldern versammelt hatten, um zu flirten, zu kreischen, einen-auf-dicke-Schwimmhose zu machen.
Die Sonne …
… schien auch auf blanke Brüste, die niemanden auch nur die Stirn runzeln ließen, sie schien auf Tattoos, die safe irgendwann einmal bereut werden, weil ganzbeintättowiert im Alter halt richtig scheise aussieht. Die Strahlen fielen auf den Räucherkerzentrupp, auf die zwei etwas älteren Ladies, die wir bereits beim zweiten Besuch wie alte Bekannte grüßten und die sich tiefenentspannt barbusig und ebenfalls kiffend eine schöne Zeit am See machten. Wir kannten außerdem bald das winzige Baby und seine junge Mama, die Familie mit den teuren Klamotten, die knutschende Familie mit den zwei Frauen, dem einen Mann und den zwei Kindern. Wir sahen schon auf dem Weg zum See die Leute mit dem riesigen Flamingo und im Bad dann noch so einige lustige Aufblasdingsis zum Schwimmen.
Und dann immer die spannenden Fragen:
Gibt es noch Liegen? Ist Parkplatz eins voll? Hat der Eiswagen schon geöffnet? Was ist in deiner Kühltasche? Und beschlossene Sache: Nächstes Jahr Zehnerkarte und Gummitier und Bollerwagen für alles, was wir brauchen und der Wein schmeckt auch nicht schlecht, aber Bargeld musste dabei haben an der Strandbar.
Libellen …
… waren morgens manchmal die einzigen Begleiter auf meiner Labradorrunde im See. Ein ums andere Mal tippsten sie mit ihren Insektenbeinchen auf das Wasser, das Absperrseil, die Bojen. Ich schwamm von A bis D und bis zur ersten Polderinsel oder anders und weit und es war kühl und heiß und die Wolken milchig den Himmel eintrübend oder alles war blau und einen weiteren sehr warmen Tag verheißend. In der Ferne eine Pinie und überhaupt viel Gebäum und Grün. Alles fühlte sich fast an wie früher, nur mein Körper leider nicht. Ich habe keine Lust auf das Alter, auf Wehwehchen und Gespräche darüber und doch ist beides all around. Ich verdränge es trotzdem, so gut ich kann.
Innerlich bin ich viel jünger, auch wenn dieses Jahr eines der seltsamsten auch wegen der gestörten Altersfühligkeit ist. Ich mag noch nicht einstimmen in den Chor derer, die sich um den Renteneintritt, Hausverkauf, Enkel, Altersteilzeit usw. Gedanken machen. Denn mir fehlen die besagten
zehn Jahre …
… irgendwie. Es ist so viel passiert, es war unruhig, verlieben, entlieben, Chaos, vermeintliche Ruhe, jede Woche wie Tchibo weil immer eine neue Welt, Krankheiten, Hoffnungen, Herzschmerz, die Rückkehr alter Freundys, der Kampf darum, sich nicht selbst zu verlieren, auch nicht im Fatalismus. Irgendwie über Wasser bleiben. Neu orientieren.
Zusehen, wie die Welt durch Wahnsinn unterzugehen scheint, lieben, auch wenn das Herzchen wehtut, lachen, über jeden Mist – im Schwimmbad mit den anderen, alleine, über mich selbst.
Denken und verdrängen. Den Sommer erst ab Ende Juli wahrnehmen, weil vorher nur Regen und Schwüle und Kirschen- und Blumen und Feldfruchtzeit komplett an mir vorübergingen und ich mich einigelte. Dieser Sommer und die vergangenen zehn Jahre. Ein Fingerschnipp – und: weg.
Und jetzt wieder diese übliche Hast …
… in Form von Kürbisdeko, Lebkuchen bei 28 Grad, Weihnachtskalenderreklame, heute schon an morgen denken und ist die schönste Zeit des Jahres jetzt der Sommer mit Ferien und Sonnencreme oder doch die (Vor-) Weihnachtszeit mit Kerzen, Bling-Bling und der Vorfreude auf Ostern und Karneval? Mein Urlaub im Frühsommer: Scheint jetzt wie ein Fiebertraum. Meine Aufbruchsstimmung der letzten zwei Jahre: verpufft.
Mir fehlt ein Stück vom Sommer …
… denn ich habe nicht genug Hitze und Eindrücke von woanders gespeichert, woanders, wo es schön ist und die aufgeheizten alten Mauern bis abends spät Wärme spenden. Zu wenig Blau, zu wenig Gelb. Zu schnell vorbei.
Mir fehlt ein Stück vom Leben …
… weil das gesunde Innehalten-Können zu selten möglich war. Trotz “count your blessings“ will das Fehl-Gefühl nicht weichen. Die Zeit kommt nicht zurück. Vielleicht habe ich aber auch einfach nur aus Versehen ein paar zu viele Melancholie-Monate gebucht.
© Sandra Windges
Foto von Etienne Girardet auf Unsplash
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Karin (Mittwoch, 18 September 2024 02:33)
BOAH, das ist verdammt gut geschrieben, du sprichst mir aus der Seele