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6. Dezember, Donnerstag

Alice, Lars, Marei und Jasper sitzen am Kaffeetisch. Jetzt können sie in aller Ruhe Stollen essen und sich über ihre Nikolausgeschenke freuen. Die Kerzen brennen, im Hintergrund läuft Weihnachtsmusik. Alice hat rosa Wangen und trägt stolz und freudig die Granatohrringe, die Lars in ihr Stiefelchen gelegt hat. Sie passen genau zu dem Armband, das er ihr vergangenes Jahr zu Weihnachten schenkte. Nikolaus trägt ein Glöckchen am Halsband und spielt mit einem kleinen Stoffnikolaus, den er bekommen hat. Selbstverständlich hat Alice auch noch einen schönen großen Kauknochen für ihn vor die Tür gelegt. Nikolaus hat keine Ahnung was los ist, aber ständig wird sein Name genannt, alle haben gute Laune und außerdem gab es heute Morgen für jeden Geschenke – in Stiefeln und Schuhen! Der Hund wird die Menschen nie verstehen! Was er auch nicht versteht, ist, warum sein Herrchen so bedrückt scheint. Nikolaus setzt sich neben seinen Stuhl und legt den Kopf auf Lars´ Oberschenkel. Geistesabwesend streichelt Lars das zottelige Fell und die unterschiedlich abstehenden, schlappenden Ohren. Und ebenfalls geistesabwesend sitzt Lars am Tisch und starrt Löcher in die Luft. Was mag in der Schule geschehen sein? Bevor Alice ihn das fragen kann, klingelt es, und kurz darauf stürmen die Guntermanns herein, die Kinder bringen sofort Leben in die Bude, Annika und Steffen begrüßen alle, und kaum, dass sie Platz genommen haben, klingelt es wieder und Marianne Wiegand steht vor der Tür.

 

Lehrerzimmer....

 

Die Nachbarn unterhalten sich gutgelaunt, es wird viel gelacht. Nur Lars ist immer noch nicht ganz bei der Sache. Zu sehr beschäftigt ihn, was heute geschehen ist. Denn einige Stunden vorher, in der Schule: Lars eilt zum Lehrerzimmer, die Pausen sind immer so verdammt kurz, er möchte wenigstens sein Frühstücksbrot essen und etwas trinken, bevor er noch etwas kopieren muss. Auf dem Weg halten ihn noch Schüler auf, die Zeit rennt. Endlich im Lehrerzimmer angekommen, holt er sich einen Kaffee und lässt sich mit einem Ächzen auf seinen Stuhl fallen. Kaum hat er in sein Brot gebissen, klopft es an der Tür und sein Kollege, der hingeht, ruft: “Lars, Kundschaft für dich!“

 ...schützt vor Wiebke nicht

 

„Oh nä, kann man denn nicht mal fünf Minuten seine Ruhe haben?“, fragt Lars griesgrämig und kaut noch an einem Bissen. Vor der Tür steht - Wiebke. Seine Exfrau. Die Frau, die sein Leben fast zerstört hat, seine Existenz mehr als heftig zum Wanken gebracht hat. Ihm wird übel. „Hallo, Lars. Tut mir leid, dass ich hier so einfach auftauche, aber wenn ich vorher angerufen hätte…“ „Hättest du erstmal meine Telefonnummer gebraucht. Und ja, ich hätte dich nicht sehen wollen. Also, was willst du?“ herrscht er sie an. „Ich möchte in Ruhe mit dir reden. Mich…“ - es kommt ihr kaum über die Lippen, denn echte Reue kennt sie nicht – „entschuldigen“. „Entschuldigen?? Wofür? Wieso jetzt? Tu mir einen Gefallen und verzieh dich!“ Er will wieder zurück ins Lehrerzimmer gehen. „Lars, bitte, warte noch. Ich habe ein paar alte Fotos von Jasper dabei, die kennst du alle doch noch gar nicht.“ „Wie auch? Du hast ja geschickt dafür gesorgt, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Zum Glück ist er jetzt klüger.“

 

Fotos

 

Statt zu antworten, gibt sie ihm einen etwas zerflederten hellbraunen A4 Umschlag. „Hier, schau sie dir an. Die sind für dich. Es tut mir alles so leid. Ich war… nicht ich selbst. Bitte, lass uns wenigstens auf einen Kaffee treffen. Nach Schulschluss, bitte. Danach verschwinde ich wieder aus deinem Leben.“ Lars bleibt nicht viel Zeit zum Überlegen. Er weiß nur, dass er dieses Gespräch führen muss, damit sie nicht noch Ewigkeiten hinter ihm her ist. Er kennt sie und ihre Hartnäckigkeit. Wie konnte er diese Frau nur jemals heiraten? „Um halb zwei im “Knülle“!“ brummt er und lässt sie dann einfach stehen.

 

Café Knülle

 

Als er im Cafè Knülle ankommt, sitzt sie bereits dort. Auch hier ist alles weihnachtlich dekoriert, auf den Tischen liegen kleine Tannenzweige, Teelichte leuchten in Gläsern. Aus den Boxen tönt ein Lied von Revolverheld „Scheiß auf Freude bleiben“. Die Fotos hat er noch nicht angeschaut, das möchte er ganz in Ruhe tun. Er kann es kaum erwarten, es fehlen ihm so viele Jahre mit seinem “Keks“, mit seinem Jas, seinem Sohn, den er so schrecklich vermisst hat. „Hallo Lars, schön, dass du gekommen…“. „Machen wir´s kurz, ich hab wenig Zeit“, schneidet er ihr das Wort ab. „Ich bekomme einen Kaffee!“, ruft er der Bedienung zu. „Also, Wiebke, was führt dich her? Nach all den Jahren? Die Sehnsucht nach Exmann und Sohn? Oder brauchst du Geld? Dir steht keins mehr zu. Oder willst du am Ende etwas zurückzahlen?“ Er lacht ein wenig. Ein guter Witz! Als ob Wiebke jemals für ihre Schulden aufkommen würde! „Jetzt sei doch nicht so! Glaubst du, das hier ist einfach für mich?“ „Glaubst du, die Vergangenheit war einfach für MICH?“, äfft er ihren Tonfall nach. „Ein Kaffee!“, sagt auf einmal neben ihm die Bedienung und platziert die Tasse vor Lars. „Nein, natürlich nicht“, murmelt Wiebke kleinlaut und nippt an ihrem bereits kaltgewordenen Latte Macchiato. „Hast du dir die Bilder schon angesehen? Eins davon ist so ein ganz süßes wo Jasper und der Nachbarsjunge mit seinem Mofa…“

 

„Wiebke! Was. Willst. Du?“ Seine grünen Augen blitzen, sein Gesicht ist rot angelaufen, gleich platzt er. „Ich möchte mich entschuldigen. Für alles. Auch bei Jasper. Aber vor allem bei dir. Das alles war, war…“ „Ganz große egoistische Scheiße? Krankhafte Egozentrik? Diebstahl?“ „Ach Lars, nun lass mich doch mal ausreden. Ja, ich habe Mist gebaut. Aber deshalb bin ich hier. Um mich zu entschuldigen. Um für uns alle drei endlich Frieden schaffen zu können.“ Ihre Therapeutin hat mehrfach den Text mit ihr besprochen. Sie muss sich konzentrieren, um auch alles zu sagen, was in solch einer Situation wichtig und angebracht ist. „Es gibt kein „uns drei“! Und Frieden haben Jasper und ich, seit du endlich deine Finger nicht mehr im Spiel hast. Du hast uns so viele Jahre gestohlen.

 

GESTOHLEN. Neben der ganzen Kohle. Widerwärtig ist das! Weil du dich nur um dich gedreht hast und nicht den Arsch in der Hose hattest, für deine Fehler einzugestehen. Ich hab Jahre gebraucht, um allein die Schulden zu tilgen. Madam musste ja auch noch das Konto leerräumen und die Versicherungen kündigen! Ich weiß gar nicht, wie du das alles hinbekommen hast. Hast du mit dem Versicherungsfuzzi gepimpert, oder was?“ Lars` Stimme wird immer lauter, die Gäste an den Nebentischen drehen ihre Köpfe, starren ihn an. „Schhht, jetzt sei doch nicht so laut!“, zischt Wiebke. „Sag du mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe! Und ihr“ – er wendet sich an die Zuhörer – „glotzt gefälligst woanders hin!“ „Lars, bitte, nimm doch meine Entschuldigung an, lass uns reden, ich will doch gar nicht mehr von dir.“ Lars steht abrupt auf, sein nur noch lauwarmer Kaffee schwappt über. Egal, er will ihn sowieso nicht trinken.

 

Steffen am falschen Ort

 

Die Tür des “Knülle“ öffnet sich und herein kommt – Steffen! Er sieht seinen Nachbarn etwas erschrocken an, aber der nimmt ihn gar nicht wahr, allein schon deshalb, weil er halb mit dem Rücken zu ihm steht. Ganz nah tritt Lars nun an die Frau heran, die etwas eingeschüchtert auf ihrem Stuhl sitzt und zu Lars aufblickt. Steffen hat sie noch nie gesehen, aber eine Ahnung, wer sie sein könnte. „Du, mein Fräulein Ego, du willst immer MEHR! Du willst immer ALLES! Und du gibst NICHTS zurück. GAR NICHTS!“ Lars fummelt einen Fünf -Euroschein aus seinem Portemonnaie und wirft ihn auf den Tisch. „Komm mir bloß nicht noch mal unter die Augen. UND LASS DEN JUNGEN IN RUHE, DU RABENMUTTER! Ich warne dich!“ Dann dreht er sich auf dem Absatz um und geht mit großen Schritten zur Tür, wo er beinahe Steffen über den Haufen wirft, der dort immer noch wie angewurzelt steht. „Ah, der Nachbar! Mit dir habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen! Und jetzt muss ich raus hier, sonst kotz ich allen vor die Füße!“

 

Draußen stampft er wütend Richtung Straßenbahnhaltestelle und rempelt versehentlich eine schlanke, blonde Frau an. Christine! „Du hast mir grade noch gefehlt!“, schreit er sie an, bevor sie etwas sagen kann. „Du bist mir auch so Eine!“ „Sag mal, spinnst du? Was ist los?“, fragt sie verblüfft. Aber ihr Kollege grummelt nur etwas in seinen Bart und läuft weiter. Das alles geht Lars nun durch den Kopf. Er genießt dieses schöne Beisammensein hier, er versucht, es zu genießen, aber Wiebkes Erscheinen hat alles durcheinandergewirbelt. „Diese Bitch!“, entfährt es ihm. Alle schauen erstaunt zu ihm.

 

Meret und abruptes Gassi

 

„Wie, ich dachte, du magst Meret Becker?“, fragt Alice erstaunt. Lars hat nicht mitbekommen, dass sie gerade mit Annika und Marianne über eine Lesung gesprochen hat, die bald stattfinden wird. Steffen weiß natürlich ein bisschen mehr, hütet sich aber, etwas zu sagen. „Ich geh jetzt mal mit dem Hund raus!“, sagt Lars und steht abrupt auf, schnappt sich Jacke, Schal und seine geliebte Strickmütze, nimmt die Hundeleine und scheucht den etwas verblüfften Nikolaus, glöckchenklingelnd, durch die Tür. Die anderen blicken ihm, genau wie Christine vor ein paar Stunden, fragend nach.

Dog: Photo by Joey Banks on Unsplash

Sandwich: Photo by Melissa Walker Horn on Unsplash

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