Jasper traut seinen Augen nicht, als er nachmittags nach Hause kommt. Vor der Tür steht – seine Mutter. Sie hat sich auf die oberste der drei Eingangsstufen gestellt, um so dem frostigen Wind auszuweichen, die Temperaturen sind tatsächlich gefallen, arg ungemütlich ist es jetzt und die Vögel auf den Dächern und in den kahlen Ästen der Bäume plustern sich auf, oder rücken ganz nah und geduckt aneinander. Raul kommt gerade vorbei und sieht den blonden Schlacks mit einem geschockten Gesicht vor dem Haus stehen. „Hi, Jas, was ist passiert? Ist Nikolaus wieder futsch?“, fragt er gutgelaunt und streicht sich seinen roten Schopf aus dem Gesicht. Raul hat Alice letztes Jahr spontan bei der Suche nach Nikolaus geholfen und ihn mit ihr zusammen “gerettet“. Seitdem sind er und seine Freundin Olympia Freunde von Alice und Lars geworden und auch von Jasper und Marei und Steffen und Annika… eigentlich gehören sie fast mit zum Inventar des Hauses. „Hi, Digga“, sagt Jasper geistesabwesend und blickt wie paralysiert auf die Frau, die da im Hauseingang steht. „Ist das eine Zeugin Jehovas?“, fragt Raul und lacht. „Du guckst nicht gerade begeistert.“ Und zu Wiebke gewandt: „Wo ist denn ihr Wachturm? Oder verkaufen Sie Bürsten?“ Er lacht wieder. Wiebke verzieht keine Miene. „Jasper, ich möchte mit dir reden.“ „Ich geh dann mal…?“ sagt Raul und hebt fragend die hellen Brauen. „Ja, ja, ist okay, ich melde mich, mach´s gut!“ Raul trollt sich und Wiebke fröstelt. „Lass mich doch bitte wenigstens kurz rein.“ Im Flur flammt auf einmal das Licht auf, es wirft ein Schattenmuster der schmiedeeisernen Ranken vor den Türglasscheiben der altmodischen, massiven Holztür auf die drei Treppenstufen. Alice ist gerade im Begriff, einkaufen zu gehen und fährt etwas erschrocken zusammen, als unvermutet jemand vor der Tür steht, die sie gerade mit einem Schwung geöffnet hat.
Eine Viertelstunde später sitzen Jasper und Wiebke im ersten Stock in der Küche. Alice hat Kaffee und Tee gekocht. So groß die Abneigung für diese Frau auch sein mag, sie hat Jasper gut zugeredet, sich mit ihr auszusprechen. „Und das hat nichts mit Weihnachten und Friede auf Erden zu tun“, hat sie kühl gesagt. „Aber ihr müsst das für euch klären.“
Nun will sie sich diskret zurückziehen, aber Jasper bittet sie, zu bleiben.
In diesem Moment öffnet sich unten die Haustür, Schritte sind zu hören und kurz danach das Öffnen von Lars` Wohnungstür. Bald darauf schließt Lars, den wedelnden Niko im Schlepptau, die Wohnungstür seines Vögelchens auf. „Hallo, Kleines, kommst du mit uns struppigen Jungs noch mit auf ne Runde? Wir können dann auch noch kurz zum Weihnachtsmarkt…“ Lars ist jetzt in der Küche und traut seinen Augen nicht. Sein Blick verdüstert sich. „Was willst du schon wieder hier? Ich hab doch gesagt, du sollst aus unserem Leben verschwinden! Hau endlich ab, sonst vergesse ich mich!“ Nikolaus bellt. Knurrt Wiebke an, bellt wieder.
„Schluss jetzt!“ Alice`grüne Augen sind kurz davor, Flammen zu werfen.
„ICH gehe jetzt mit dem Hund und IHR sprecht jetzt miteinander wie zivilisierte Menschen. DANACH könnt ihr euch immer noch die Augen auskratzen.“ Lars fällt ausnahmsweise mal gar nichts ein und steht mit offenem Mund da, Jasper rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum und nippt an seinem Tee, Wiebke schließlich, die Verursacherin dieser Situation, schaut stumm in ihren Kaffee, sitzt da mit gebeugten Schultern.
Mit Alice hat sie nicht gerechnet. Sie weiß nicht, ob sie überhaupt mit irgendetwas oder mit irgendjemandem gerechnet hat, aber Alice ist sie nicht gewachsen, das spürt sie. Umso mehr, als diese nun ihren Exmann küsst, mit fester Stimme „Ich liebe dich“ sagt und dann mit dem Hund die Wohnung verlässt.
Gestern war Alice nicht so kool und überlegen. Patricks Erscheinen hat ihr zunächst einen kleinen Schock versetzt. Sie hat das alles noch genau im Ohr und vor Augen:
„Hallo Alice, hast du kurz Zeit für mich?“ „Nein.“ „Ach komm, jetzt sei doch nicht so! Ich möchte doch nur ganz in Ruhe mit dir reden. Und mich entschuldigen.“ „Wofür? Dafür, dass du ein Vollidiot bist?“
„Aliiiice? Wer ist daaa?“, riefen die Mädchen aus der Küche. „Nur jemand, der sich ganz böse in der Tür geirrt hat“, rief Alice zurück und wollte dieselbe schon schließen. Da waren die beiden Mädchen schon in die Diele gelaufen und drückten sich in den Türrahmen. Wie zwei kleine Weihnachtselfen sahen sie aus mit ihren roten Wangen, den Zuckerspuren im Gesicht und ihrem roten (Friederike) und grünen (Augusta) Kleidchen.
„Ist das der Mann mit der kaputten Flasche?“ wollte das grüne Elfchen nun wissen. Augusta konnte sich noch an das letzte Zusammentreffen von Alice und diesem Mann erinnern, als sie vergangenes Jahr alle gemeinsam für das Vorweihnachtsessen einkaufen gewesen waren und Lars ihn im Supermarkt gegen eine Magnumflasche Champagner geschubst hatte, die als Gewinn der Weihnachtsverlosung auf einer Stele dekoriert war.
„Genau der ist es und er will auch schon wieder gehen.“
„Alice, jetzt warte doch mal. Ja, ich habe Fehler gemacht, große Fehler.“ Er ordnete nervös seinen ohnehin akkuraten Scheitel. „Aber vielleicht kannst du mir verzeihen. Ich liebe dich doch noch. Das mit Johanna war dumm von mir… Und, stell dir vor, ich habe das Haus am Stadtrand gekauft! Wir könnten da…“ „Sag mal, bist du eigentlich noch bekloppter geworden?“ schrie Alice ihn an. Nikolaus war auch in die Diele gelaufen und knurrte, dann bellte er. Die Kinder machten große Augen.
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich mit dir noch einmal einlassen würde? Außerdem habe ich einen Mann! Du Idiot!“ In diesem Moment war Lars nach Hause gekommen, hörte das Geschrei und war so schnell wie nie oben.
„Oh nein, was macht der Honk denn hier?“ „Der will mit Alice in ein Haus ziehen!“, verriet Augusta eifrig. „Aber Alice will nicht“, fügte sie beruhigend hinzu. Nikolaus war der Typ unsympathisch. Wenn Frauchen sich über den so aufregte, mochte er ihn schon gleich gar nicht. Und so machte er weiter auf “gefährlicher Hund“ und knurrte drohend und fletschte sogar die Zähne. Und dann eskalierte die Situation ein wenig. Alice spürte ohne Vorwarnung Übelkeit in sich hochsteigen und spuckte Patrick in hohem Bogen auf seinen Mantel. Ja, auf den “ich habe 100 Euro gespart“- Mantel. Alle hielten die Luft an.
Patrick hatte den Mund offenstehen und zog dann ein angeekeltes Gesicht. Nikolaus sprang aus der Tür und auf ihn zu. „Niko, aus!“, rief Alice.
„Wieso? Soll er doch…“, setzte Lars an. „Niko hat schon genug angerichtet“, sagte Alice trocken (dabei wusste sie aktuell gar nicht von allem, was er angestellt hatte…), trotzdem sie gerade ihrem Ex auf den Mantel gebrochen hatte.
„Was?“ Lars kapierte nicht. Aber wie auch?
„Alice, ist das jetzt alles hier dein letztes Wort?“ Patrick hatte ein Päckchen Papiertaschentücher hervorgekramt und wischte an seinem Mantel herum. „Den Mantel lass ich reinigen, das ist doch nicht so schlimm.“
Lars platzte der Kragen. „Jetzt pass mal auf, du Clown, wenn du nicht ganz flott deinen Arsch hier wegbewegst, stoß ich dich wieder. ABER DIESMAL DIE TREPPE RUNTER!“
Patrick ignorierte ihn. „Alice, es tut mir leid, dass es dir schlecht geht, dieses Virus ist ja grad überall unterwegs.“ Alice wollte nur noch ihre Ruhe haben. „Das ist kein Virus.“ Lars, Niko und Patrick standen nun alle im Flur.
„Ihr werdet Vater!“
Alice bricht bei der Erinnerung in Gelächter aus. Niko bellt freudig und springt sie leicht an. Er hat keine Ahnung, was Phase ist, aber wenn Frauchen lacht, ist alles in Butter.
„Was ist Phase?“, fragte gestern auch Lars, und Patrick und Niko: „… wie bitte?“ und „Wuff?“
„Du doch nicht Patrick! Wie sollte das denn gehen?“ Alice wollte nur noch, dass dieser Typ verschwand. Das tat er dann, dank Lars´ Herausbugsierens auch. Dann wischte Lars den Boden vor Alicens Wohnungstür. Drinnen gab es weitere Aufregung: Während Nikolaus vorhin alleine in der Küche gewesen war, hatte er eins der Knusperhäuschen angeknabbert, nein, er hatte es fast komplett aufgefressen. Friederike brach in Tränen aus, denn es war ihr Häuschen gewesen. Augusta war noch mit dem eben Geschehenen beschäftigt gewesen und stand mit großen Augen einfach mitten im Weg herum und Alice legte sich, nachdem sie sie kurz im Bad die Spuckspuren beseitigt hatte, auf das alte Sofa. „Kommt her zu mir, alle. Ich brauche jetzt Ruhe, ich will liegen, ich will euch um mich herum haben, ich …ich weiß grad auch nichts mehr. Und dann quetschten sich alle aufs Sofa, die Mädchen, der Hund und Lars. In seinem Kopf war immer noch nur ein großes „Hä?“. „Du hast kein Virus?“ „Nein.“ „Du bist schwanger? „Ja.“ Da nahm er ihre Hand, küsste sie zart, und Friederike fragte: „Kriegst du ein kleines Baby?“ Und Augusta sagte: „Die sind doch immer klein, du Blödi!“
Alle lachten. Dann sagte lange niemand etwas. Und die Kerzen brannten und knisterten.
Nikolaus hielt sich diskret zurück, er wusste genau, dass das mit dem Knusperknäuschen am Häuschen gar nicht so super okay war. Aber er ist eben auch nur ein Hund!
Photo by erin walker on Unsplash
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