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Eis-Tsunami-Brecher

Als mein Opa starb, war ich um die 22 Jahre jung und in tiefer Trauer. Der Tod war mir trotz ständiger Angst davor noch nicht so wirklich untergekommen und dass ein naher Verwandter sterben könnte, war für mich surreal.

 

Die Wochen vor Opas Tod waren geprägt von dem Schock über seinen Schlaganfall und dem gruseligen Besuch im Krankenhaus. Opas Augen waren nicht mehr braun, sondern irgendwie grau, er war nicht wirklich ansprechbar, sondern wand sich in seinem Bett, öffnete die Augen zu einem leeren Blick und Mutter und Oma sowie Onkel standen drum herum und taten irgendetwas und sagten irgendetwas. Ich verzog mich auf den Krankenhausflur und weinte. Bald darauf bat mich irgendjemand, vielleicht meine Mutter, um einen Labello, den ich stets bei mir trug, weil Opa so trockene Lippen habe und mein Onkel sagte beschwichtigend, dass ich nicht weinen müsse.

 

Musste ich aber, ging nicht anders. Das Ganze war ziemlich durchsichtig, jeder wusste, dass dieser Schlaganfall den Baum Opa gefällt hatte und lediglich die Wurzel noch auf eine komplette Kappung wartete.  Dieses Warten kam mir vor wie eine Art makaberes “Wir warten aufs Christkind“ oder jenes Warten auf null Uhr an Silvester, damit diese blödsinnige Böllerei endlich losgehe. Es gab aber weder Geschenke noch laute Knaller und zischende  Raketen, die den schwarzen Himmel mit bunter Pyrotechnik dekorierten, logisch. Ich wartete auf das, was da unweigerlich zu kommen drohte, während ich mich durch das Stricken eines Schals abzulenken und zu beruhigen suchte. Dabei kann ich eigentlich gar nicht stricken.

 

Auf der Beerdigung hieß es, ich solle mir den Blick in den geöffneten Sarg nicht geben, sondern „den Opa so in Erinnerung behalten“, wie ich ihn kannte. Meine Oma rügte mich außerdem wegen meines hellen Mantels und des bunten Liberty Tuches, beides während meiner Au pair-Zeit in England von meiner sehr knappen Barschaft erworben „Wie sieht denn das aus auf einer Beerdigung“.

 

Ich weinte und fror. In der Kirche, auf dem Friedhof und in der Gaststätte, in der sich die Trauerenden zu meiner Fassungslosigkeit versammelten, um Brötchenhälften, Kaffee und später Bier zu sich zu nehmen. „Wie kann man nur jemanden beerdigen und dann etwas ESSEN??“, dachte ich angewidert. Mein Körper war erstarrt, ich war erstarrt, Kälte, Trauer, Unverständnis, das Begreifen um die Endlichkeit des Seins hatten von mir Besitz ergriffen.

 

Mit am Tisch saßen Herr und Frau M., ehemalige Nachbarn meiner Großeltern, die ich seit meiner Kindheit kannte, aber schon lange nicht mehr gesehen hatte, weil Oma und Opa irgendwann umgezogen waren.

 

„Da ist ja unser Engelchen!“, sagten sie lieb. Ich hatte als Kind mal einen Engel gemimt, als Begleitung des Nikolauses, aka Herrn M. Und dann, während sie weitersprachen, geschah etwas in mir. Frau M. erzählte, wie mein Opa, der als Hausmeister gearbeitet hatte, in den 'Blocks'  und um die 'Blocks`herum, wie diese damals moderne Ansammlung von hochgeschossigen Häusern genannt wurde, immer mit seinem typischen, ganz leicht das Bein nachziehenden Gang über die Rasenflächen geschritten war; wie er die beiden besucht hatte und bei ihnen Königsberger Klopse zum Essen bekam, weil meine Oma die nicht mochte und ergo nicht kochte, wie er ein Schnäpperken trank, wie er Kuchen aus der Bäckerei meines Onkels vorbeibrachte, wie er lachte und polterte und seine Sprüche klopfte. Sie lächelten und wollten mich trösten und aufmuntern. Und es gelang ihnen: Während sie also erzählten, setzte sich das innere Bild, das ich von meinem Großvater hatte und das zum Standbild geworden war, wieder in Bewegung. Ich sah ihn gehen, hörte ihn reden, erinnerte mich an die Brötchen, die er mir manchmal in der Pause auf den Schulhof brachte, wenn ich längere Zeit bei Oma und Opa einquartiert war. Der Eisblock in meinem Inneren schmolz, die Erstarrung wich und ich glaube, ich konnte sogar ein bisschen mit den beiden lachen, als sie Anekdoten „vom Opa“ erzählten.

 

Der Beerdigungskaffe war also gar nicht so eine gruselige Veranstaltung, stellte ich damals fest, eine Feststellung, die sich auch bei späteren Beerdigungen bestätigen sollte.

 

Das ist aber nicht der springende Punkt meines weiten Ausholens. Der springende Punkt ist der, dass es in Zeiten von familiären oder beziehungsbezogenen Tsunamis kaum etwas Rettenderes gibt, als Menschen, die DA sind. Die ERZÄHLEN. Die ZUHÖREN. Die einen zum LACHEN bringen und mit einem WEINEN. Die einem das eigene Selbst wieder bewusst machen: „Guck mal, du bist auch noch da.“

 

Ein vertrautes Gesicht löst Blockaden und schenkt ein bisschen Erleichterung; wenn die Liebe des Lebens sich gerade mit einem fulminanten `Kawumm` aus jemandes Leben verabschiedet hat, der Job urplötzlich verlustig gegangen ist oder eine üble Krankheitsdiagnose im Raum steht. Menschen, am besten welche, die einen schon lange kennen, Freunde, Verwandte oder eben ehemalige Nachbarn sind die Eisbrecher, die Auffänger, die Lebensspender. Es können auch Leute sein, die man niemals vorher sah und die sich dann auf einmal auf einer Beerdigung einfinden und ganz neue alte Geschichten über den Verstorbenen erzählen. Oder es sind diejenigen, die andere Einblicke ins Leben des ehemaligen Partners hatten oder haben und die Trauer über den (vermeintlichen) Verlust ein wenig mildern, weil sie Licht ins Dunkle bringen und, wie oben geschrieben, Bewegung in die Sache bringen. Denn: „Stillstand ist der Tod“.

 

Dieses erstaunte „Ach, die guten Seelen gibt es ja auch alle noch“, wenn man sich mit Freundinnen trifft, die einen nach einer persönlichen Katastrophe aufmerksam und liebevoll anschauen und in ihre Mitte nehmen. Dieser gute Freund, der mit einem spazieren geht, damit man endlich mal wieder ´raus kommt. Die Patentante, die einen zum Kaffeetrinken ins Lieblingscafè schleppt und ihre typische Plauderei wohldosiert einsetzt, um das verletzte Seelchen sanft wieder aufs Gleis zu setzen.

 

Die Kollegen, die sich freuen, dass man endlich wieder da ist, die Rücksicht nehmen und den Platz mit einem Strauß Blümchen geschmückt haben.

 

Und noch so viele andere, die Katastrophenhilfe leisten, unaufgeregt und selbstverständlich, die aus der Hoffnungslosigkeit ein Quäntchen Leben zaubern und es wie einen verlustig gegangenenBleistift ganz unprätentiös vor einen auf den Tisch legen „Hier, ist dir ´runtergefallen`, einen aufmunternden Blick auf dem Gesicht. Die Eisbrecher und Herzchenheiler.

 

Die wir alle sind oder sein können. Die wir alle brauchen. Irgendwann.

 

 

 

Photo: Unsplash Arthur Poulin

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Sylvia (Samstag, 26 Oktober 2019 09:19)

    Dieser Beitrag hat mich sehr ergriffen, weil ich schon so einiges im Leben mitgemacht habe und alles genauso stimmt.

  • #2

    Angelika (Samstag, 26 Oktober 2019 17:52)

    Wer hat nicht schon Schweres erlebt und -vielleicht -hoffentlich mitfühlende Menschen an seiner Seite gehabt, die wieder Leichtigkeit ins Sein bringen.
    Wunderschöner Text.
    Danke dafür, Juno Wi.

  • #3

    GoldvonRheydt (Sonntag, 27 Oktober 2019 13:38)

    Sehr einfühlsam geschrieben. Auch ich konnte mich und manche Siutation wiedererkennen...
    Es ist schön zu wissen, dass es Herzensmenschen gibt, die da sind. Mal sind wir das Eis, mal die Brecher.