Böses Kino
Von Sonntag auf Montag habe ich schlecht geschlafen. Gefühlt nur zwei Stunden, aber die reichen vollkommen für einen schlechten Streifen, den man Alptraum nennt. Böses Kino sozusagen. Ich träumte, ich läge in meinem Bett, was ich zu jenem Zeitpunkt tatsächlich tat, und jemand strich mir über die Wange, was mir missfiel. Kurz danach war ich erleichtert, dies nur geträumt zu haben, da sequenzierte etwas besonders Fieses im nicht vorhandenen Plot meines Traumfilms: wieder spielte eine Hand aus dem Nichts die Hauptrolle.
Die Hand
Ich spürte diese Hand, während ich schlief an MEINER HAND. Sie umfasste meine Finger und ließ nicht mehr los. Ich wollte zappeln und schreien, aber ich konnte es nicht. Ich gruselte mich entsetzlich und war heilfroh, als ich endlich aufwachte! Kinders, da war ich aber mal feddisch! Was meine Hand tatsächlich fühlte oder gefühlt hatte, war lediglich mein Kissen, unter das ich sie geschoben hatte.
Das Jahr persönlich
Und so war ich auch angegruselt, als ich ein paar Nächte später auf einmal das Jahr 2021 auf meiner Bettkante sitzen hatte. Das kann man sich ja wohl vorstellen! Freundlicherweise tatschte es mich nicht an, aber ich war wach geworden von dem Gewicht, das auf einmal Topper und Matratze beschwerte. Seltsamerweise hatte ich dann aber keine Angst mehr, denn ich spürte, dass dieses Wesen mir nichts Böses wollte.
Trump muss mal
Das Jahr trug ein schlichtes langes Gewand und keine Schuhe. Um den Kopf herum wehten seine Locken, oder… doch nicht? Ständig blinkte es dort, wie eine Art Mini-Universum mit Sternen oder wie ein Film, der auf eine Mauer projiziert wird, oder dann doch wieder wie irgendetwas in 3D. Ich sah Elon Musk auf seinem Weg ins All, Trump beim Kacken (was zu Glück ganz schnell verdrängt wurde von anderen Bildern oder Szenen), Herrn Drosten, wie er sich für den täglichen Podcast bereitmachte, Frau Merkel, die die verbleibenden Tage ihrer Regierungszeit im Kalender durchstrich, ich sah Menschen in Booten und ertrunken im Meer, ich sah überhaupt sehr viel Wasser, zerstörte Häuser und die verzweifelten Bewohner dieser Häuser, dann schneite es, dann schien die Sonne, es regnete wieder, dann demonstrierten Menschen gegen das Impfen und in Split Screen konnte ich Impfwillige in Impfstationen beobachten. Das Jahr 2021 schüttelte leicht sein Haupt und wieder gerieten die Bilder und Szenen durcheinander und in Bewegung und es gab Licht und Farben und Dunkelheit. Es war ein bisschen so, als würden alle Filme des Jahres und alle Fotos in einer Art kosmischer Waschmaschinentrommel mit Beleuchtung und auf `Wolle` durcheinander geschleudert.
Haben Jahresrückblicke sittlichen Nähwert?
„Ihr immer mit euren Jahresrückblicken!“, schnaubte das Wesen nun verächtlich. „Was hat das für einen sittlichen Nährwert?“ „Nun, ähm, wir Menschen vergessen so schnell und da ist es doch ganz schön, wenn man noch mal erfährt, wer so von uns gegangen ist- kannst du dich noch an das Jahr erinnern, in dem fast alle Musik-Helden meiner Generation gestorben sind? Das war ja krass! Ach ne, da warst du ja noch gar nicht, haha…“ - „Danke fürs dran-Erinnern“, sagte 2021 leicht sarkastisch-
„Na ja, egal, jedenfalls, wollen wir eben gerne alles, was in den vergangenen Monaten geschehen ist, Revue passieren lass…“
„Ach, Schnick-Schnack! Ihr seid doch der schlechten Nachrichten überdrüssig, daran will doch keine Sau erinnert werden!“ Ich wunderte mich ein wenig über den etwas vulgären Ton. Sollte ein wesengewordener Zeitabschnitt nicht anders auftreten? Ein bisschen - erhabener vielleicht? Nun gut, immerhin saß das Jahr auf MEINER Bettkante, das konnte kein Zufall sein. Bestimmt, weil ich auch oft und gerne mal fluche und verwün… . „Papper La und Papp! Diese Gedanken kannst du dir sparen. Ich bin ganz random hier. Der Besuch der scheidenden Jahre kommt immer zufällig und manchmal passt´s und manchmal eben nicht.“
Boomer-Sprech
„Wie willst du das wissen? Du bist doch erst ein Jahr alt und musst außerdem zeitnah abkratzen!“ Ich war ein wenig selbstzufrieden-erheitert ob der Tatsache, dass ich gleich zwei Boomer-Ausdrücke verwendet hatte.
„Ich weiß es eben!“, gab das Jahr patzig zurück, aber im Schein seiner Corona (!) konnte ich sehen, dass sein Gesicht einen eher gestressten Ausdruck annahm, der bald darauf müde und traurig, dann wieder etwas verbissen wurde.
Schlechte Performance
„Jedenfalls wollte ich die Gelegenheit nutzen, um selbst auf meine Performance zurückzublicken. Allein, was hilft`s? Ihr habt wieder mal alles versaubeutelt, was es zu versaubeuteln gab. Kriege, Klimakatastrophen, Kindsmissbrauch und -vernachlässigung, Katar als WM-Austragungsort wird immer noch nicht durchschlagend gedisst, Menschen laufen immer noch in hässlicher Active Wear herum und beleidigen die Augen, uuund… apropos hässlich: wer designt eigentlich immer eure PolitikerInnen, und überhaupt: `Innen`, der ist auch fürchterlich, dieser an sich gutgemeinte Gendersprech. So umständlich und unkreativ!“ Das Jahr schüttelte wieder seinen Kopf, rollte grimassierend mit den Augen und legte die schmale Hand auf sein Schlüsselbein wie ein gestikulierender Wolfgang Joop.
Gute Nachrichten
„Also, ich hab das nicht erfunden“, sagte ich unbeteiligt. Es hatte ja recht mit allem. Trotzdem:
„Es sind auch schöne Dinge passiert! Erst diese Woche las ich einen Post „Soundsoviele gute Nachrichten, die untergegangen sind“ und da standen tatsächlich gute Nachrichten drin. Und auch wenn uns seit deinem Geschwister 2020 der ganze Scheiß, den die Menschheit verbockt hat, um die Ohren fliegt wie Wuhaner Fledermäuse: Es tut sich was! Fürs Klima, zum Beispiel bei den Dörfern, die doch nicht dem Braunkohleabbau geopfert werden. Aufforstungen, Renaturierungen, keine Plastekondome mehr über holländischen Gurken, Mäc Dreck will seine Verpackungen mit Pfand belegen und überhaupt gibt es viel mehr Bewusstsein für Ernährung und Tierschutz und viele wissen, dass zu viele Kühe einfach zu viel pupsen! Bodyshaming wird geächtet usw. Wir sehen meistens nur auf das Schlechte, weil wir das besser abspeichern. Schräg, oder? Und Twitter, Insta, YouTube, Facebook und Co. vermurksen auch viel, wenn man nicht damit umgehen kann.“
Ich kam mir sehr positiv aufgeladen und schlau und nachsichtig vor.
Murks und Süßkartoffeln
„Das sind ganz nette Argumente, aber auch die erklären nicht, warum ihr jedes Jahr aufs Neue diesen Rückblick so dermaßen feiert! Gleichzeitig fiebert ihr aber schon dem neuen Jahr entgegen, das euch neue Chancen für neuen Murks eröffnet, wie jeden Dripper aufs Podest in Social Media zu heben und immer noch nicht zu wissen, wo sich Attila Hildmann versteckt hat oder wer im Bernsteinzimmer wohnt oder warum Frau Baerbock kein Englisch kann oder warum Süßkartoffelpommes im Ofen nicht richtig knusprig werden.“ Erneut schüttelte das Jahr sein Haupt und face-palmte etwas theatralisch.
Tempus fugit
Dann beugte sich Zwanzigeinundzwanzig ein wenig vor und sprach immer eindringlicher auf mich ein. Und immer schneller. Ich wusste, warum: Seine Zeit rann davon wie Sand in einer Eieruhr. Es hatte nur diese zwölf Monate gehabt und nun blieben ihm wenige Tage, fast nur Stunden, um noch mal das Steuer herumzureißen, um uns neu einzunorden, um uns die Wichtigkeit des Hier und Jetzt mit Blick auf die Zukunft unserer Nachkommen noch mal vor die Stirn zu klatschen. Tempus fugit!
Black week
„Ich sage dir ganz ehrlich, ich bin mit meiner Bilanz nicht sehr zufrieden. Mir sind so viele Dramen in meine Arbeit gegrätscht und ich hatte so wenig Zeit.“ `Mimimi`, dachte ich, aber ich hörte weiter zu. „Die Zeit rennt wie Shopping-Countdowns in der Black Week.“
Seine Corona zeigte Babys, die geboren wurden, eine Bestatterin, die liebevoll eine Tote schminkte, jede Menge Autos auf der Jinggang`ao-Autobahn, eine Wüste, Arbeiterinnen in einer Textilfabrik, Stars auf dem roten Teppich und schließlich ein Hirschrudel auf einer Waldlichtung.
Günther Jauch
Dann war das Jahr verschwunden. Die Kirchturmuhr schlug vier und ich schlief wieder ein. Beim morgendlichen Kaffee dann dachte ich noch mal über alles nach und fragte mich, wo alte Jahre wohl zum Sterben hingehen.
Einen Jahresrückblick habe ich mir übrigens nicht angeschaut. Günther Jauch ist zwar ´n netten Kerl, aber er trägt immer so hässliche Anzüge.
©Sandra Windges
Photo: https://unsplash.com/@louishansel
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Clemens Rabe (Freitag, 31 Dezember 2021 19:30)
Gefällt mir gut.
Interessante Idee, Dialog mit einem Jahr